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PREISVERLEIHUNG

CIVIS Medienpreis 2023

Wow-Gefühle in der „Kapelle“

Der Ort des Geschehens nennt sich „Kapelle“, der Jahrgang verheißt etwas Besonderes. Die Stimmung ist dementsprechend, also prächtig: CIVIS feiert Jubiläum. Zum 35. Mal wird der Europäische CIVIS Medienpreis für Integration und kulturelle Vielfalt verliehen. Und zwar so, wie es sich gehört. Sozusagen im vollen Berliner Abendornat, mit der Lizenz zur persönlichen Begegnung von rund 300 Gästen und nicht wie zuletzt durch Corona aufs nachmittägliche Studio-Format und Abstandhalten reduziert. 

Zum ersten Mal seit vier Jahren also ist die CIVIS Community wieder als große Gemeinde versammelt, leibhaftig und lebendig. Den Rahmen bildet der imposante Gründerzeitbau der vormaligen Großmeierei Carl Bolle in Berlin-Moabit. „Bimmel-Bolle“ schickte einst von dort seine Pferdewagen mit frischer Milch zur Auslieferungstour in die Stadt. An diesem Abend sorgt das gedämpfte Ziegelrot des Saals „Kapelle“ für das stimmungsvolle Ambiente der CIVIS Feier.

„75 Minuten, in denen Sie unglaublich gute Filme und sehr besondere Hörstücke und ganz fantastische Autorinnen und Autoren sehen und hören werden“, verspricht Moderatorin Natalie Amiri. Es ist dies die Auswahl aus nahezu 900 Bewerbungen um einen der verschiedenen, allesamt begehrten CIVIS Preise. Aus 22 EU-Ländern und der Schweiz kamen die Kandidaturen. Mehrere Auswahlkommissionen und Jurys haben in einem wochenlangen peniblen Verfahren die Einreichungen aus Radio, Fernsehen und Internet gesichtet, aus vielen guten die allerbesten ausgewählt und für die Finalrunde nominiert.

BOLLE Festsäle in Berlin
Natali Amiri | Moderatorin CIVIS Preisverleihung 2023
Fabian Gasmia und David Wnendt | CIVIS CINEMA AWARD

Jeder Erwachsene sollte diesen Film anschauen!

Es geht jedes Mal – Kernanliegen von CIVIS – um das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Prägung. Um gegenseitigen Respekt, aber auch um die Erfahrung wechselseitiger Bereicherung und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Amiri: „Ob das funktioniert, hängt davon ab, wie man sich gegenseitig sieht. Und wie man sich gegenseitig sieht, dabei spielen Fernsehen, Radio, Internet oder Kino eine außerordentlich große Rolle.“ Nicht immer eine positive, das macht CIVIS so notwendig. Gerade „weil die Mediengesellschaft tendenziell polarisierend und manchmal auch pauschalisierend über die Themen der Einwanderungsgesellschaft berichtet“, werde CIVIS gebraucht, meint Christiane von Websky vom CIVIS Partner Stiftung Mercator in ihrer Video-Grußbotschaft.

Denn CIVIS – soll heißen: das große Feld der Bewerber:innen um den Medienpreis – zeigt: Es geht auch anders, genau statt pauschal, empathisch statt diskriminierend, ermutigend statt abwertend.

Mit anderen Worten: Es lohnt sich. „CIVIS darf man nicht verpassen, weil hier gesellschaftlich relevante Themen begleitet, eingeordnet und überragend dargestellt werden“, erklärt Friederike Behrends, die Vorsitzende der Geschäftsführung der Deutschen Postcode Lotterie, die seit diesem Jahr zu den Partnern der CIVIS Medienstiftung gehört, ebenso wie die Open Society Foundations, ebenfalls Neuzugang im Kreis der Freund:innen und Förderer. Schon lange dabei ist die Deutsche Welle mit ihrem Intendanten Peter Limbourg. „Meine Botschaft an die Nominierten ist: „Freuen Sie sich, denn Sie sind bei CIVIS dabei!“ Der Aufforderung wird erkennbar vorbehaltlos nachgekommen.

Den ersten Sieger des Abends hat das Publikum gekürt: David Wnendt und Fabian Gasmia bekommen den CIVIS CINEMA AWARD für ihren Film „Sonne und Beton“. Es ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Felix Lobrecht, die Geschichte dreier Jungs vor 20 Jahren aus der Berliner Gropiusstadt, denen das Leben dort ziemlich übel mitspielt.

Schon in den ersten sechs Wochen haben mehr als eine Million Menschen den Film gesehen. Und manche haben sich darin wiedererkannt. Ein Mädchen aus einem Wohnheim in Stuttgart hat den Machern geschrieben: „Es ist genau so, genau so ist unser Leben. Wenn du rausgehst – da ist überall Gewalt und Aggression. Da ist nirgendwo Ruhe und mal ein liebes Wort. Ich wünschte, jeder Erwachsene würde diesen Film anschauen!“

Auf der Feier hat Produzent Fabian Gasmia außerdem noch einen – nicht ganz ernst gemeinten – Ratschlag zu bieten, den er seinem Papa, einem gebürtigen Algerier, verdanke. Was tun, damit man an deutschen Autobahn-Raststätten nicht rassistisch angemacht wird? Man trage eine Bild-Zeitung unter dem Arm … schön, wenn das nur ein Witz wäre.  

Natali Amiri, Isabel Schayani | CIVIS Video Spezialpreis
Isabelle Werner, Karina Gordok, Sophie Anggawi, Larissa Sobral, Cengiz Tarhan | CIVIS AUDIO AWARD Podcasts
Jonathan Brunner | CIVIS YOUNG C. AWARD

„Illegal“ streichen

Der Preisträger in der Kategorie VIDEO Information greift eines der CIVIS Schlüsselthemen auf, das erneut in vielen der eingereichten Produktionen im Fokus steht: Flucht und was sie bedeutet. In der Arte-Produktion „Letzte Zuflucht – Das Haus am Tor zur Sahara“ berichtet Ousmane Samassékou aus dem ‚Haus der Migranten‘ in der malischen Stadt Gao. Von der Hoffnung derer, die sich auf den lebensgefährlichen Weg Route nach Europa oder in nordafrikanische Länder begeben, von der Verzweiflung derer, die es versucht haben und gescheitert sind. 

Zwei Jahre lang hat Samassékou das Leben und Leiden im Migrantenhaus verfolgt. „CIVIS nimmt sich auch Geduld und Zeit, um sich den Themen intensiver zu widmen“, sagt Stefan Raue, Intendant des Deutschlandradios, im Einspieler der Freunde und Förderer. Herausgekommen ist in den Worten der CIVIS Jury „ein Meisterwerk über Menschen unterwegs, am Südrand der Sahara, über ihre Träume und Traumata … Wer diesen Film gesehen hat, streicht den Begriff ‚Illegale‘ in Verbindung mit Flüchtlingen aus seinem Wortschatz.“

Ousmane strahlt, dankt auf Englisch und Französisch und ist „überglücklich, hier zu sein“. Hat er eine Meinung zu den aktuellen Bestrebungen der Europäischen Union, ihr Grenzregime weiter zu verschärfen? „Es gibt die Gefahr, dass man alles versucht, Menschen abzuhalten, die dann ihr Leben riskieren … Für mich ist es eine Entscheidung der Leute selbst, ob sie sich auf den Weg machen oder zurückkommen.“

Auch die Auszeichnung für den besten Podcast ist durch Publikumsabstimmung vergeben worden – freilich, nachdem die CIVIS AUDIO Jury fünf Beiträge nominiert und zur Wahl gestellt hat. In „Unter Almans“, einer Produktion für Radio Bremen/COSMO interviewt Host Salwa Houmsi die Entertainerin Parshad Esmaeili, die erzählt, wie der Anschlag von Hanau ihr Leben verändert hat. Ein rassistischer Attentäter erschoss dort 2020 neun Menschen, anschließend sich selbst und seine Mutter. Der Vater des getöteten Hamza wird zitiert: „Egal, was ich tue – ich werde nie richtig anerkannt sein als Deutscher.“ „Was also muss sich ändern?“, fragt Natalie das preisgekrönte Team der Produzent:innen und Autor:innen. „Wahnsinnig viel“, sagt Isabelle Werner. Was die Politik alles ändern müsse, sprenge den Rahmen dieser Feier. Aber „der CIVIS Medienpreis ist schon mal ein Schritt in die richtige Richtung – dass wir hier sitzen, dass wir anerkennen, dass das Themen sind, über die wir sprechen müssen!“ 

Ousmane Samassékou | CIVIS VIDEO AWARD Information
Peter Viitanen, Patrick Ryborn | CIVIS Video AWARD Unterhaltung
Roman Fillinger | CIVIS AUDIO AWARD kurze Programme

Zeichen düsterer Zeiten

Weswegen es vielleicht kein Zufall ist, sondern mit dem Zustand der Welt zu tun hat, dass es aus dem 35er-Jahrgang besonders die eher düsteren, bedrückenden Darstellungen waren, die das Publikum und die Jurys beeindruckten. Das ist nicht erfreulich, aber richtig. Denn „ein Problem an einem Ende der Welt spürt man überall, auch bei uns. Und damit gibt uns CIVIS den Kompass – schon seit Jahrzehnten – wie wir damit umgehen“, stellt WDR-Intendant Tom Buhrow, Vorsitzender des Kuratoriums der CIVIS Medienstiftung fest. Sein CIVIS Hauptpartner Andreas Freudenberg, Kuratoriumsvorsitzender der Freudenberg Stiftung, sieht es genauso: „Wenn diese Geschichten nicht erzählt werden, bleiben wir auf manchen Augen blind oder kurzsichtig.“ 

Medienmenschen unter 34 können sich um den YOUNG C. AWARD bewerben. Das Rennen macht in diesem Jahr „Border Conversations“ von Regisseur Jonathan Brunner, der die Ehrung per Zuschaltung aus Tel Aviv verfolgt. Im Zentrum seines Films stehen die verzweifelten Bemühungen zweier polnischer Aktivistinnen, Karolina und Kornelia, den Flüchtlingen an der Grenze zu Belarus zu helfen. Die Jury erkennt in dem Stück „eine Grenzerfahrung im doppelten Sinn und eine eindrückliche Darstellung des täglichen Skandals namens Pushback“.

„Border Conversations“ ist mithin eine der „Geschichten, die sonst im Dunkeln bleiben“, wie Minu Barati-Fischer von der Produzentenallianz in ihrer Grußadresse sagt. Damit das nicht passiert, brauche es „ganz viel Mut und Ausdauer“. Genau das, couragierte Hartnäckigkeit, ist das Markenzeichen einer WDR-Journalistin, die dafür im Jubiläumsjahr einen Spezialpreis bekommt. Isabel Schayani, Leiterin von WDRforyou, wird laut Begründung der CIVIS VIDEO Jury „für ihre langjährige, herausragende und nachhaltige Berichterstattung zum Thema Flucht und Asyl“ ausgezeichnet. „Ihr Anliegen, das Schicksal Geflüchteter, macht sie zum Anliegen einer großen Öffentlichkeit … Es ist unmöglich, aus Schayanis Beiträgen nicht klüger zu werden.“ Das gibt einen besonders herzlichen Applaus – im Publikum sitzen viele, die das bestätigen können.

Schayani kann den Preis nicht persönlich entgegennehmen. Sie ist – keine Überraschung – im Einsatz. Diesmal in der Ukraine, von wo ein weiteres Mal verstörende Nachrichten eintreffen. Sie bedankt sich in einer Video-Botschaft beim Team von WDRforyou und bei CIVIS „dafür, dass Ihr dieses Menschheitsthema Migration und Flucht seht – das gibt mir echt Kraft!“. Wenn sie zurück sei, sagt Natalie Amiri, komme sie mit der Preis-Stele vorbei, „und dann kochen wir auch wieder persisch zusammen“. 

Mohamed Bah, Katz Laszlo | CIVIS VIDEO AWARD Social Media Formate
Ute Lieschke | CIVIS AUDIO AWARD lange Programme
Ousmane Samassékou | CIVIS TOP AWARD und CIVIS VIDEO AWARD Information

Spannung und Problembewusstsein

In der Kategorie VIDEO Unterhaltung siegt ein Film, der zeigt, wie man mit Spannung Problembewusstsein schaffen kann: die Auftaktfolge der schwedischen Dramaserie „The Lost“. Autor Ulf Ryberg erzählt das Schicksal einer Gruppe von Flüchtlingen, die es im Inneren eines Tanklasters über die Grenze nach Schweden schaffen, bevor ihnen der Trucker aus Versehen die Luftzufuhr abdreht. „Enorme Sogkraft“, findet die Jury, „atemberaubend gut gespielt!“.

Das Thema ist dasselbe, die Form völlig anders: Autor Roman Fillinger porträtiert in der SRF-Produktion „Flucht aus der Ukraine – Achterbahn der Gefühle“ Kriegsflüchtlinge, die hin- und hergerissen sind zwischen dem Wunsch, in der neuen Umgebung anzukommen, und der Trauer um den Verlust der Heimat. „Das Ergebnis einer ausführlichen Recherche wird in kurzem Format auf den Punkt gebracht“, lobt die Jury. Dafür gibt es den Preis in der Kategorie AUDIO Kurze Programme.

Es folgt der formal besondere Beitrag: „Mohamed“ von Katz Laszlo und Mohamed Bah, Sieger in der Kategorie Social Media. Der Titelheld aus Guinea erzählt in einem ebenso pfiffig wie anrührend animierten Video von seinen deprimierenden Erfahrungen als Asylsuchender mit der Bürokratie in Amsterdam. Die „zauberhafte Visualisierung“ verschaffe gerade einem jungen Publikum Zugang zu einem extrem harten Thema, heißt es im Urteil der Jury. So ist „Mohamed“ ein Paradebeispiel für das, was SRG SSR-Direktor Bakel Walden von den Freunden und Förderern an CIVIS besonders schätzt: „Ich selber habe durch CIVIS gelernt, dass es wahnsinnig viele berührende, lustige und manchmal auch schräge Geschichten gibt, die von neuen, kreativen Stimmen erzählt werden.“

Die Qual mit der Wahl hatte die CIVIS Jury auch mit den – allesamt hochklassigen – Kandidaten für die Abteilung AUDIO Lange Programme. Als Sieger zieht Natalie Amiri schließlich aus dem Umschlag: „Welcome Home Dr. Marco – Identitätssuche zwischen Karl-Marx-Stadt und Kenia“. Autorin Ute Lieschke vom Deutschlandradio begleitet Dr. Marco, einen in der DDR aufgewachsenen schwarzen Anästhesisten, den erst seine Töchter darauf bringen, der eigenen Herkunft nachzuforschen. 

Es ist, erklärt die Jury, „die emotionale und spannende Geschichte dreier Generationen … Das Stück erzählt viel über Weiße und Schwarze – und wie absurd es ist, Menschen zu rassifizieren.“ Und handelt damit ganz im Sinne des CIVIS Auftrags, „gegen antidemokratische Tendenzen und Rassismus in unserer Gesellschaft aufzutreten“, so ORF-Generaldirektor Roland Weißmann.

Auch Moderatorin Natalie Amiri ist zutiefst berührt beziehungsweise „schockverliebt“. Was doppelt plausibel wird, wenn man Lieschke zur Entstehungsgeschichte hört. Sie hatte ursprünglich das Stück mit Passagen aus eigener Feder anreichern wollen. Bis ihr ein Redakteur sagte: „Das Stück wird auch funktionieren, wenn wir deine Texte weglassen!“ Das muss man als Autorin erstmal wegstecken. 

Der Höhepunkt der Gala ist auch diesmal der Preis der Preise: Der mit 15.000 Euro dotierte CIVIS TOP AWARD wird als zusätzliche Auszeichnung an einen der Kategorienbesten vergeben. Natalie, den Umschlag in der Hand, nimmt sich Zeit für einen 360-Grad-Dreher. Und dann gibt es den längsten Applaus des Abends, für Ousmane Samassékou. Da er kein bisschen mit der Auszeichnung gerechnet hatte, besteht seine Dankesrede zunächst im Wesentlichen aus dem Wort „Wow!“ Gefolgt unter anderem von einer sehr passenden Schlussbemerkung: „Ich glaube, alle hier sind in gewisser Weise Gewinner.“