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PREISVERLEIHUNG

CIVIS Medienpreis 2020

Der CIVIS Medienpreis? Da braucht es „Redakteure und Filmemacher, „die sich was trauen“, sagt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz. Denn bei CIVIS geht es um Migration, Integration und kulturelle Vielfalt – und damit regelmäßig um Themen, die immer wieder Streit auslösen. Es geht außerdem oft um Zustände, die nicht hinnehmbar sind: schändliche Verstöße gegen Zivilität und Mitmenschlichkeit etwa. Diese aufzudecken erfordert investigative Courage. Sie darzustellen, erfordert erzählerisches Geschick und formale Kreativität. Zusammen, sagt Widmann-Mauz, ergibt das „manchmal eine Achterbahn der Gefühle. In einem Moment hält man den Atem an vor Spannung. Im nächsten Moment den Bauch vor Lachen, und dann ist man tief erschüttert und zu Tränen gerührt.“ An diesem Freitag ist die Achterbahn wieder unterwegs gewesen.

Zum 33. Mal werden die CIVIS -Preise verliehen. Normalerweise ist das ein Gala-Event, feierlich ausgerichtet im Auswärtigen Amt in Berlin. Corona hat ein zeremonielles Downgrading erzwungen: Ein WDR-Studio in Köln-Bocklemünd ersetzt die hohen Hallen des Amtssitzes von Heiko Maas. Das leibhaftig anwesende Publikum beschränkt sich auf rund zwei Dutzend handverlesene Gäste. Wie bei den Oscars in Hollywood werden die Sieger von Prominenten vorgestellt, auch das nicht live, sondern per Video-Einspieler. Fürs analoge Bühnenleben sorgen einzig die Moderatorin Aminata Belli und die Nominierten der sieben Preiskategorien – soweit sie nicht wegen der Pandemie auf die Anreise verzichten mussten.

Das prosaischere Format ist indes durchaus nicht unangemessen. Mehr als 900 TV-, Rundfunk- und Filmproduktionen aus 22 EU-Ländern und der Schweiz sind eingereicht worden. „Es gab auch gute Sachen zu berichten“, sagt die Moderatorin Aminata Belli. Viele allerdings legen Zeugnis ab von unwürdigen Verhältnissen: vom Sterben der Flüchtlinge und der Gewalt an Europas Grenzen, von Folter in syrischen Gefängnissen, von der Deklassierung und Ausbeutung von Sinti und Roma, von Fremdenhass und gesellschaftlicher Spaltung, von Antisemitismus und militantem Nationalismus.

Andreas Freudenberg, Kuratoriumsvorsitzender der Freudenberg Stiftung, die neben dem WDR die CIVIS Medienstiftung wesentlich trägt, wünscht sich in der Video-Botschaft für seine Kinder und Enkel eine „Gesellschaft, die die Vielfalt lebt und genießt“. Die nominierten Filme und Hörstücke des diesjährigen CIVIS Wettbewerbs zeigen: Vom Genießen der Vielfalt sind wir häufig noch ein ganzes Stück weit entfernt. Allerdings machen die prämierten Programme Mut, diesen Weg zu beschreiten. Sie waten nicht in Unglück, stellen nicht Betroffenheit aus. Hier wird der Abschaffung oder wenigstens der Korrektur der Missstände Vorschub geleistet – Mal ergreifend, mal eher bissig, zuweilen schreiend komisch. Und viele von ihnen so, dass die vor Augen führen, was WDR Intendant Buhrow meint, wenn er in seiner Grußbotschaft sagt, CIVIS zeige, dass es sich lohne, die Stimme zu erheben.

Zum Beispiel beim Gewinner des Hauptpreises (TOP AWARD), der zugleich als bestes Werk eines Nachwuchs-Regisseurs (YOUNG C.) ausgezeichnet wird. Masel Tov Cocktail, entstanden an der Filmakademie Baden-Württemberg, Co-Produktion mit SWR und ARTE, erzählt die Geschichte des jungen Juden Dima, dessen Familie aus der UdSSR ins Ruhrgebiet gekommen ist. Deutsche Filme, sagt Dima, behandeln das Thema Juden meist nur in schwarz und weiß. „Wir schlagen selten zurück … aber so ein Film ist das hier nicht!“ Dima schlägt zurück und bricht einem Mitschüler, der ihn antisemitisch beleidigt hat, die Nase.

Richtig so? Oder grundfalsch? Dima rätselt selbst. „Antisemitismus ist wie Herpes – niemand kennt ein Heilmittel gegen den Scheiß!“ Was wir zu wissen meinen, entpuppt sich als ein Haufen Klischees, die Masel Tov Cocktail eines nach dem andern der Lächerlichkeit preisgibt. „Dieses Spannungsverhältnis zwischen Antisemitismus, Zuschreibungen und gönnerhaft daherkommendem Mitgefühl bringen die Regisseure Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch ganz wundervoll auf den Punkt“, lobt Iris Berben in ihrer Laudatio auf den Film.

 

Komik in einer Problemzone bietet auch der Preisträger der Kategorie Video Unterhaltung (Fiktion), die französische Fernsehproduktion Classe Unique (France Télévisions/France 3). Christel Gonnard und Pauline Rocafull illustrieren, was Andreas Freudenberg so formuliert: Das Leben in kultureller Vielfalt sei eine große Herausforderung für die Gesellschaft und die Medien hätten hier eine besondere Aufgabe. Die Filmemacherinnen führen vor, wie ein französisches Dorf in Aufruhr gerät, als dort eine Gruppe Migrant:innen untergebracht werden soll. Der Konflikt zwischen Wohlmeinenden und Abweisenden eskaliert dramatisch, die geplante Unterkunft wird abgefackelt. Und doch, sagt Rocafull, habe sie bei ihrer Recherche in der französischen Provinz festgestellt, dass in den Dörfern, die unter Landflucht leiden, mit dem Zuzug von Migranten „positive Geschichten passieren“. Stoff für eine Komödie? Ja, findet die Jury: „Eine Komödie entlang von Tragödien.“ Laudator Tedros Teclebrhan alias Comedy Teddy pflichtet bei: „So unterhaltsam, dass ich mitleiden und mitlachen konnte.“

 

Nichts zu lachen gibt es hingegen in Anna Tillacks Reportage über Die Bettler aus der Walachei, einer Co-Produktion von BR und Arte, Sieger in der Kategorie Video – Information. Der Film räumt auf mit dem Vorurteil, dass hinter den Bettlern in unseren Innenstädten jeweils kriminelle Gangs stecken. Das war zwar Ausgangspunkt der Recherche. Doch dann stellte sich heraus: „Die Realität ist ganz anders“ (Tillack). Oft ist es nackte Not, die rumänische Sinti und Roma zwingt, Heimat und Kinder zurückzulassen und im wohlhabenden Norden Almosen zu erbetteln. „Was besonders bewegt, ist das Hinschauen auf menschliche Schicksale“, sagt ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz in seiner Grußbotschaft. Auch sein Schweizer Kollege Gilles Marchand, Generaldirektor des SRG SSR, sieht die große Stärke der CIVIS Beiträge darin, dass „Protagonisten ihre Emotionen und Erfahrungen direkt mit dem Publikum teilen“.



 

Der aus Mali stammende Soumayla Sacko wird als Erntehelfer in Kalabrien ermordet. Franziska Sophie Dorau, Siegerin in der Kategorie AUDIO lang, hat für ihre ORF-Radio-Reportage die Hintergründe der Bluttat recherchiert. Das Ergebnis ist, wie die CIVIS Jury es ausdrückt, „eine Geschichte über Sklaverei mitten in Europa“. Und ein Beispiel für Journalismus, der sich was traut – betrieben wird das Geschäft mit der Ausbeutung von der kalabrischen Mafia-Bruderschaft, der N’Drangheta. „Franziska Dorau beschreibt uns die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen die Erntehelfer aus Afrika in Italien arbeiten und leben müssen“, erläutert Laudatorin Sandra Maischberger. Das Stück ist damit ein Paradebeispiel für das, was die Film-Produzentin und CIVIS Partnerin Minu Barati (Produzentenallianz) als Kernanliegen des Medienpreises sieht: Dass er „uns vor Augen führt, dass wir in unserem kleinen, privilegierten Leben viel zu oft weggucken und uns die Welt schöner reden als sie ist.“


 

Den Sieger in der Kategorie AUDIO kurz stellt der Fußballer Neven Subotić vor. Peter Voegeli, Reporter des Schweizer Rundfunks, hat sich die sächsische Stadt Zittau, im Dreiländereck Deutschland, Polen, Tschechien, vorgenommen. Und wundert sich: „Zittau profitiert von der EU, aber die EU profitiert nicht von Zittau.“ Die Stadt ist eine Hochburg der AfD und damit des scheelen Blicks auf Europa. Wieso? Die Reportage Zittau – mitten in Europa aber nicht mitten in der EU sucht nach Antworten und macht laut Subotić „nachvollziehbar, was Europa konkret bedeutet“. Der Beitrag zielt auf ein Dilemma, das WDR-Intendant Tom Buhrow in seinem Grußwort anspricht: „Die Welt rückt enger zusammen, und gleichzeitig wird sie durch schrille Parolen weiter auseinander gezogen.“




 

In der Kategorie CINEMA kürt traditionsgemäß keine Jury, sondern das Publikum per Online-Abstimmung den Preisträger. Die Schauspielerin Lena Klenke, die den Gewinner vorstellt, wird nicht die einzige sein, die von dem Film „total überrascht“ war, obwohl sie die Geschichte schon kannte. Die Geschichte, das ist Judith Kerrs vor fast 50 Jahren erschienener Jugend-Klassiker Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Seit 2013 schon habe er eine Verfilmung geplant, berichtet Jochen Laube, Geschäftsführer der Produktionsfirma Sommerhaus. Caroline Link hat aus dem Stoff „eine sehr leise Geschichte“ gemacht. Eine Erzählung, die Klenke in einem kleinen Kino in Bayern zu Tränen rührte. Was sind die Preise? In den einzelnen Kategorien gibt es jeweils 2.000 Euro, der Top Award ist mit 15.000 dotiert. Die will das Team hinter Masel Tov Cocktail, der schon mehrere andere Auszeichnungen abgeräumt hat, gleich weitergeben. Regisseur Khaet kündigt unter großem Beifall an, dass je die Hälfte ans Zentrum Demokratischer Widerspruch und an die Amadeu-Antonio-Stiftung gehen soll.

 

Für die Vitrine nehmen alle Gewinner zudem ein Prisma mit. Mit einem solchen sowie einer „lobenden Erwähnung“ wird auch der Moderator Jafaar Abdul Karim für seine überaus erfolgreiche Talkshow „Jaafar Talk“ im arabischen Programm der Deutschen Welle bedacht. Da lässt er „unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen“, beispielweise eine muslimische Aktivistin mit einer Berliner AfD-Größe. Auch das braucht Können und Traute. Und ist ganz im Sinne von Karims Chef, dem DW-Intendanten Peter Limbourg: „Wir dürfen unsere Gesellschaft nicht aufspalten lassen.“

Wer die Live-Übertragung der CIVIS Preisverleihung verpasst hat, kann sie sich hier noch einmal anschauen. Auch der TOP AWARD Gewinner Masel Tov Cocktail ist in der Mediathek zu sehen – eine Einladung zur Freifahrt auf der „Achterbahn der Gefühle“. Jedenfalls gilt für die CIVIS Preisträger des Jahrgangs 2020 die Devise von Deutschlandfunk-Intendant Stefan Raue: „Das ist immer wieder von großer Frische, großer Neugier, großem Engagement.“