CIVIS MEDIENDIALOG 2025
Alles Migration?
Agenda Setting und der Druck auf die Demokratie
Migration sei „die Mutter aller Probleme“, erklärte 2018 der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer. Es ist bis heute eine höchst kontroverse These – für die einen eine Wahrheit, die umso mehr ausgesprochen gehöre, als sie so vielfach bestritten werde; für die anderen Teil einer ideologischen Fehlsteuerung, anders ausgedrückt: Versuch, eine Stammtisch-Parole in den Status einer Tatsachen-Feststellung zu erheben. Jedenfalls ein Thema nicht nur für die Politik, sondern auch für die Medien und natürlich für CIVIS.
Die CIVIS Medienstiftung hat die Frage nach der Rolle der Medien auf diesem Feld nun unter dem Titel „Alles Migration? Agenda Setting und der Druck auf die Demokratie“ in den Mittelpunkt ihres 2.Mediendialogs gestellt. Wie bereits im Vorjahr erfolgte dies in Kooperation mit der Stiftung Mercator, die es sich zum Ziel gesetzt hat, „Räume, in denen Debatten zu gesellschaftlich relevanten und auch kontroversen Themen faktenbasiert, offen und lösungsorientiert diskutiert werden können“, zu schaffen, wie Nina Ohlmeier, die Leiterin des ProjektZentrums in Berlin, es in ihrer Begrüßung erklärt.
Ferdos Forudastan, Geschäftsführerin der CIVIS Medienstiftung geht anschließend darauf ein, welches Ziel der 2. Mediendialog hat: Man wolle eruieren, „welche Verantwortung Zeitungen, Sender, journalistische Online-Formate beim Umgang mit Flucht oder Einwanderung haben und wie sie ihr gerecht werden“.
Das wären also im Einzelnen etwa folgende Aspekte: „Widmen sich journalistische Medien diesen Themen zu viel oder dramatisierend? Und vernachlässigen sie dabei nicht nur die Chancen der Migration, sondern auch ganz andere, ebenfalls hochrelevante, aber zum Teil viel oder gar viel weniger spaltende Fragen – Klima zum Beispiel, Wohnungsnot, Pflege, Bildung? Oder ist es im Gegenteil so, dass klassische Medien Migration und Probleme, die sie mit sich bringen kann, zu wenig oder zu vorsichtig – und manchen sagen auch: verharmlosend – behandeln?“
Zuständig für Antworten sind Vertreter:innen unterschiedlicher Disziplinen. Entsprechend ist das Podium besetzt: Shakuntala Banerjee, Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen, Jona Teichmann, Programmdirektorin des Deutschlandradios, und WELT-Chefredakteurin Jennifer Wilton vertreten das journalistische Geschäft. Christiane Hoffmann, vormals ebenfalls Journalistin, bringt als Erste stellvertretende Regierungssprecherin den Aspekt der politischen Kommunikation ein. Und die Politologin Dr. Julia Reuschenbach von der Freien Universität Berlin steht für den politikwissenschaftlichen Zugriff. Dasselbe gilt für den Moderator Dr. Leonard Novy, Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationspolitik.
Wie schon beim ersten Mediendialog gibt es zum Auftakt eine Portion einschlägiger empirischer Erkenntnisse, diesmal geliefert von der Mainzer Kommunikationswissenschaftlerin Prof. Dr. Nayla Fawzi, die in ihrem Impulsvortrag einen Überblick über den Stand der Forschung bietet. Es ist kein einheitliches Bild, sondern setzt sich – je nach Datenerhebungsmethode, Stichprobe und Beobachtungszeitraum – aus unterschiedlichen Puzzlesteinen zusammen. Außerdem betreffen die Befunde zumeist traditionelle journalistische Medien in traditionellem Format, die bei jüngeren Nutzer:innen gegenüber den neuen Plattformen mit ihren algorithmisch kuratierten Informationen zunehmend ins Hintertreffen geraten. Für die Jüngeren sind Social Media wichtigste Nachrichtenquelle.
Dennoch ist die Empirie im Einzelnen durchaus aufschlussreich – und dazu angetan, das ein oder andere Vorurteil zu konterkarieren:
- Journalistische Medien spielen weiterhin eine wichtige Rolle für die Meinungsbildung, sind aber zunehmend abhängig von den Big-Tech-Plattformen.
- Bei der Wichtigkeit der Themen laufen die Einstufung durch die Medien und die Bevölkerung erkennbar parallel. Mit einem gewissen Vorsprung der Journalist:innen – sie setzen die Agenda.
- Der Journalismus findet den Klimawandel bedrohlicher als die Bevölkerung insgesamt, bei der Migration ist das Verhältnis umgekehrt.
- Ob eine Berichterstattung einen Vorgang oder eine Entwicklung positiv oder negativ darstellt, wird von den Nutzer:innen konträr gesehen. Es hängt vor allem von der Position des jeweils Befragten ab.
- Polarisierung und Negativität haben besonderen Nachrichtenwert und verstärken dadurch populistische Narrative und gesellschaftliche Spaltung.
- Rollenbild vs. Medienwirkung: Obwohl nur die wenigsten Journalist:innen dies beabsichtigen, gehen fast alle davon aus, dass sie durch ihre Medienberichterstattung die politische Tagesordnung beeinflussen.
Das Saalpublikum will mehr wissen. Zum Beispiel fragt ein Gast, wie es komme, dass es auf der rhetorischen Ebene immer weiter nach rechts gehe, während die tatsächliche Migrationspolitik doch eher liberaler geworden sei, zum Beispiel durch das geänderte Staatsbürgerschaftsrecht. Ist beides ganz entkoppelt, oder wird auf längere Sicht der eine Faktor den anderen beeinflussen? Wenn ja, in welche Richtung wird es gehen? Widerspruch im Saal: Eine solche Liberalisierung habe es gar nicht gegeben. Fawzi überweist die Frage an das Panel.
Dort bekommt als Erste stellvertretende Regierungssprecherin Hoffmann Gelegenheit zu erläutern, warum die Politik in Sachen Migration unter extremem Druck stehe: Die Berichterstattung schüre die Erwartung, das Problem müsse umgehend erledigt werden, was notwendig zu Enttäuschung und Verdrossenheit führe.
„Die Grundlage all unseres Sprechens über Migration ist, dass falsche Erwartungen an die Lösungsmöglichkeiten geweckt werden.“
Tatsächlich habe man es jedoch mit einer enormen Menge an Stellschrauben zu tun, die im Hinblick auf die divergenten Ziele Humanität und Ordnung justiert werden müssten.
ZDF-Journalistin Banerjee räumt ein, „dass wir natürlich in den nachrichtlichen Formaten stärker dran sind an der kritischen Seite“. Das werde den Redaktionen auch immer wieder vorgehalten: „Müsst Ihr ständig auf die negative Seite gucken? Wo ist der konstruktive Ansatz?“ Kritik gehöre aber nun einmal zur Wächteraufgabe der Presse. Und außerdem, wirft Regierungssprecherin Hoffmann ein, stelle sich im vorgegebenen thematischen Kontext die interessante Frage, ob sinkende Asylbewerberzahlen eine negative oder positive Nachricht seien.
Das gibt Moderator Novy Gelegenheit, auf das überraschende Ergebnis einer Studie hinzuweisen, wonach DIE WELT Migration positiver abbilde als die Print-Konkurrenz. WELT-Chefredakteurin Wilton vermerkt es mit Zufriedenheit, fügt aber gleich hinzu, dass der öffentliche Raum von heute mit seinen ökonomischen Zwängen den einzelnen Medien wie auch der Politik nur noch wenig Raum lasse für eigene Gestaltung. „Wir reagieren darauf, was nachgefragt ist.“
Programmdirektorin Teichmann kann dem nur zum Teil beipflichten. „Natürlich müssen wir den Finger in die Wunde legen … Aber so, wie wir das manchmal tun, ist es ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit.“ In Sachen Migration müsse man sich fragen: „Gehen wir anders mit dem Thema um als mit anderen Themen? Und da würde ich sagen: Ja!“ Migration habe mit Ängsten vor Fremdheit und Veränderung zu tun, und die Menschen neigten dazu, diese Gefühle auf das Thema Migration zu projizieren. So komme es, dass „in der medialen Befassung die negativen Aspekte eine zu große Rolle spielen“.
Wobei für die Menschen das angebliche Problem Nummer eins gar nicht an erster Stelle steht. Soziologische Langzeitstudien zeigen laut der Politikwissenschaftlerin Dr. Julia Reuschenbach, dass in Deutschland viel mehr Befragte Sorge vor Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit haben als vor Migration. „Auf Zeit tauchen da ganz andere Probleme auf.“ Dem gerecht zu werden, benötige Journalismus mehr Zeit und Ressourcen als für den kurztaktigen „situativen“ Zugriff.
Eine weitere Stellschraube sieht Reuschenbach im Einfluss der alternativen Plattformen auf die Traditionsmedien. So habe es beispielsweise ein im Netz kursierendes gefälschtes Foto einer Mitarbeiterin von Annalena Baerbock mit einem vermeintlichen Palästinenserschal flächendeckend in die Qualitätsmedien geschafft. Die müssten sich fragen, „wie sehr macht man sich zum Werkzeug dieser lauten Polarisierungsunternehmer?“ Migration sei „ein Thema, das sehr gut polarisierbar ist“.
Dabei stehen nach den Erfahrungen von Christiane Hoffmann die Politik wie auch die Medien selbst unter einem ständigen Druck durch „die sehr, sehr manifeste Erzählung“, derzufolge Migration grundsätzlich schönfärberisch und zu positiv dargestellt werde. Das verführe Journalist:innen und Politiker:innen dazu, mit besonders drastischen Mitteln den Gegenbeweis anzutreten. Hinzu komme verstärkend der Einfluss ausländischer Desinformation, die das Bild vermittle, „in Deutschland ist der Teufel los“.
Kommt bei der Berichterstattung über Migration das Positive grundsätzlich zu kurz? Es ist eine Fragestellung von besonderem Gewicht für die CIVIS Medienstiftung, die sich ausdrücklich für mediale Erzählungen von gelingender Integration starkmacht. Banerjee verweist auf die Vielfalt der Programme, in denen auch solche Perspektiven einen festen Platz hätten. In den klassischen Nachrichtenformaten überwiege allerdings die Problematisierung.
Weitgehend Einigkeit herrscht im Panel über die Notwendigkeit, mit sensationellen Umfrage-Ergebnissen kritisch umzugehen. Reuschenbach erinnert an eine Erhebung, bei der sich angeblich herausgestellt hatte, dass eine Mehrheit deutscher Männer Gewaltfantasien gegenüber ihren Frauen hegt. Das sei indes „methodischer Shit“ gewesen, habe es aber als Aufreger in sämtliche klassischen Medien geschafft und die zuständige Politik zur Stellungnahme genötigt. „Wenn Sie online eine Umfrage machen, an der sich jeder beteiligen kann, der gerade online ist – was wird da rauskommen?“
CIVIS-Geschäftsführerin Forudastan kommt zum Schluss auf die Ausgangsfrage zurück: Wie weit trägt die ausladende Berichterstattung zum Themenfeld Migration selbst zum Eindruck bei, das sei das größte aller denkbaren Probleme? Müssten die Journalist:innen nicht selbstbewusster und viel öfter und viel intensiver auch andere Fragen thematisieren, die zahlreiche Menschen betreffen?
Teichmann ist der Hinweis wichtig, dass man öffentliche Debatten über Migration nicht ignorieren könne. Aber: „Nachdenken, ob wir nicht Teil einer Inszenierung sind – ja.“
Und Banerjee nennt die Frage danach, ob Medien ihr Agenda Setting und den häufigen Spitzenplatz für die Migration nicht immer wieder kritisch unter die Lupe nehmen, „eine wichtige Überlegung“. Außerdem fügt die Journalistin an: „Da würde sich vielleicht hin und wieder die Frage lohnen: Kann man sich jetzt auch mal einer anderen Thematik zuwenden?“
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Fotos: CIVIS/ Oliver Ziebe